Die Geschehnisse in der Ormond Bar
Dublin, 16. Juni 1904.
Kurz vor vier Uhr Nachmittag. Zwei Sirenen stehen hinter der Bar im Ormond Hotel. Bronze bei Gold. Miss Lydia Douce und Miss Mina Kennedy. Draußen sommerliche Wärme; Hitze wohl nach irischen Begriffen.
Leopold Bloom, Protagonist und seinen Weg in den Heimathafen suchender Odysseus im „Ulysses“ von James Joyce, strandet im Mythos.
Seit dem Morgen ist er im schwarzen Anzug unterwegs (am Vormittag schon musste er ein Begräbnis besuchen), ihm ist heiß deshalb.
Noch sind die Sirenen alleine, trinken Tee, erzählen sich Geschichten, die in Kichern und Prusten münden. Hinter dem Bar-Raum befindet sich ein Speisezimmer, daneben der Saloon, in dem manchmal Konzerte stattfinden und deshalb auch ein Flügel steht. Darauf eine Stimmgabel, die ein blinder junger Klavierstimmer am Morgen vergessen hat.
Schauplatz für ein Kammerspiel, wo die Akteure der Sirenen-Episode in Kürze eintreffen werden, alleine, paarweise.
Bloom wandert durch Straßen, schaut in Schaufenster, lässt die Gedanken vor und zurück wandern, hat Papier gekauft um einen Brief zu schreiben. An Martha. Überquert die Essex Bridge, spürt Hunger und Appetit auf ein spätes Mittagessen und nähert sich (ganz von ungefähr?) dem Ormond Quai.
Simon Dedalus tritt ein. Ist charmant zu den Bardamen, bekommt einen Grog serviert und stopft seine Pfeife mit Tabak der Marke „Mermaid“.
Lenehan kommt, auf der Suche nach Blazes Boylan und mit Neuigkeiten von den Pferderennen. Vier Uhr hatte er gesagt. Ist es schon vier?
Und dann schneit Blazes Boylan, der Impresario – und Liebhaber – Molly Blooms -, mit den feinen knarrenden Schuhen, auf einen Sprung und schnellen Drink herein. Die Sirenen hinter der Bar, Miss Douce und Miss Kennedy, bringen ihre Reize zur Geltung; ein bisschen Bein, ein Strumpfband mit akustischen Qualitäten, eine Rose am Dekolleté.
Obwohl Blazes doch eigentlich auf dem Weg zum Rendezvous mit Molly ist. Was Bloom auch weiß. Und justament jetzt Boylan in seiner Kutsche vorbeifahren sieht. Und von Richie Goulding, der ihm zufällig über den Weg gelaufen ist, zu einem gemeinsamen Essen in die Ormond Bar animiert wird. Wo eben Blazes Boylan sich Ale und Schlehensirup einschenken lässt.
Das Klavier im Saloon ist frisch gestimmt für das Raucherkonzert. Zu Mister Dedalus haben sich hier Ben Dollard und Pater Cowley gesellt. Der eine vormals gefeierter Tenor in Dublin, der andere früher den geistlichen, nunmehr eher den irdischen Genüssen zugetan. Letzterer lässt einige Takte aus Don Giovanni hören, man schwärmt gemeinsam von vergangenen Opernaufführungen und jenem unvergesslichen Abend, als Dollard akut schwarze Hosen für einen Konzertauftritt im Laden der so attraktiven Molly Bloom erstanden hat. Simon Dedalus singt – mit immer noch schöner Stimme – „M’appari“ aus Flotwos Oper „Martha“.
Im Speisezimmer wartet Pat, der schwerhörige Kellner des Ormond, den Gästen Bloom und Goulding auf. An der Bar trinkt George Lidwell, Anwalt und Gentleman, sein von Bronze und Gold hingebungsvoll gezapftes Guiness. Die Uhr hat schon vier geschlagen. Boylan eilt denn auch davon auf knarrenden Sohlen, Lenehan folgt in seinem Windschatten. Leonhard Bloom bei Tisch hört die Uhr, hört das Klavier, hört die Männer singen, hört Blazes Boylans Kutsche klingelnd losfahren und weiß, dass er auf dem Weg zu seinem – Blooms – Haus ist, zu Molly, seiner – Blooms – Frau. Beobachtet den Konkurrenten, leidet empfindlich, ängstlich, den Tränen nah. Und bliebt sitzen bei Leber mit Speck und Apfelwein. Den Brief an Marthe schreibt er später, darin auch einige Anzüglichkeiten, die seinen Kummer nicht vertreiben.
„The Croppy Boy“ singt Simon Dedalus im Saloon – die Ballade vom jungen Freiheitskämpfer, der sich von einem falschen Priester täuschen ließ und für Irland den Tod fand. Tappend nähert sich der blinde Klavierstimmer, seine Stimmgabel liegt vergessen am Flügel. Martha, die treulose Molly und Gedanken über Verlust und Verrat gehen Bloom durch den Kopf, indessen er Miss Douce beobachtet, die lustvoll den Zapfhahn an der Bierschank poliert. Die Ormond Bar ist von heftigem Applaus für Mister Dedalus und seine Darstellung erfüllt, als Bloom seinen Aufbruch beschließt.
Kaum auf der Straße, muss er sich in vorgebliches Studium von Auslagen flüchten, um die Begegnung mit Bridie Kellie zu vermeiden (und so auch die Erinnerung an ihre käuflichen Liebesdienste, die er zuvor durchaus schon schätzte). Lärmend fährt eine Straßenbahn vorbei. Genau im richtigen Moment, um den Wind, der vom Apfelwein rührt, ungehört aus Blooms Darm fahren zu lassen.
Dublin, 16. Juni 1904, fünf Uhr Nachmittag.
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